"Die Katastrophe von Tschernobyl" Ein bewegender Abend in der Kreuzkirche zu Hüsten, 3. Mai 2016

Foto: hc

Als der letzte Ton von Joachim Neanders wunderbarem Schöpfungslied "Himmel, Erde, Luft und Meer" in der Kirche verklungen ist, verbleibt das Publikum in absolutem Schweigen an seinem Platz. Die Stille ist mit Händen zu greifen. Keine Hand regt sich zum Applaus. Nur zögerlich verlassen erst wenige, dann allmählich immer mehr Menschen das Gotteshaus – immer noch schweigend.

 

Was haben sie erlebt – und wie kam dieses Erlebnis zustande?


In unseren Tagen hat sich zum dreißigsten Mal der Super-GAU von Tschernobyl gejährt: menschliches und technisches Versagen schlugen eine "unauslöschliche Wunde in die Schöpfung Gottes". Unzählige Menschen starben oder wurden nachhaltig geschädigt; der Lebensraum wurde auf Jahr(-zig)tausende unbewohnbar. In Weißrussland etwa wurden fast ein Viertel des Landes und damit 40 Prozent seiner Nutzfläche verstrahlt.


Ein paar Menschen aus der Hüstener Gemeinde meinten, man dürfe das Ereignis und seine Opfer nicht dem Vergessen anheim geben – und planten so diesen Abend. Allen voran Vera Möller, seit langem und immer noch aktiv bei Heim-statt Tschernobyl (einem Werk, das ein Bodelschwingh-Nachfahre ins Leben rief), die mit ihm und vielen anderen eigenhändig Öko-Häuser in Weißrussland aufbaute und noch aufbaut, um dort, in nicht verstrahlten Gebieten, Menschen aus der Katastrophen-Gegend neuen Lebensgrund zu geben. Sie, die auch eine veritable Posaunistin ist, holte sich ihren Chorleiter Martin Stegmann ins Boot, dazu ihre Pfarrerin Ulrike Rüter – und eine kleine erlesene Schar von Könnerinnen und Könnern an Blechblasinstrumenten von hier und aus der Nachbarschaft.


Herausgekommen ist ein Abend mit einem Programm, das sich in Wort und Musik hören lassen konnte. Abwechselnd kam Musik (von vier Trompeten, sechs Posaunen und einem Euphonium) aus Renaissance und Frühbarock einerseits und zeitgenössische Kompositionen andererseits zu Gehör; dazu ausgewählte Texte von Naturwissenschaftlern und Schrift-stellerinnen, vor allem von der Literatur-Nobelpreis-Trägerin Swetlana Alexijewitsch, die bewunderungswürdig auf einfachste Weise den Opfern, den "kleinen Leuten" – bis hin zu den Kindern! – Gehör verschafft und ihnen so ein Denkmal setzt. Ulrike Rüter und Martin Stegmann lasen die Texte so, dass sie den Zuhörenden ins Herz drangen.


Der Berichterstatter erlaubt sich, eine ihn besonders bewegende Stelle zu notieren: ein Junge erzählt, wie sich bei der überstürzten Ausreise aus dem Katastrophengebiet seine Oma von Haus und Hof verabschiedet. Sie lässt für die Vögel, "die Geschöpfe Gottes", den letzten Sack Weizen da, für Kater und Hund ein paar Eier und kleingeschnittenen Speck. "Und dann hat sie sich vor dem Haus verneigt… Vor dem Schuppen… Sie ist um jeden Apfelbaum herumgegangen und hat sich vor ihm verneigt."


Und ein Stück Musik von diesem Abend möchte er erwähnen, das ihm noch lange nachgehen wird: Chris Woods (*1951) schreibt eine Choral-Phantasie über das Gesangbuchlied "Bleib bei mir, Herr" (EG 488). Sie klingt wohl gesetzt und gut anzuhören – bis zu dem Moment, wo die Trompeten es sehr unvermittelt, in hoher Lage, noch einmal herausstoßen, ja, geradezu herausschreien: "Bleib bei mir, Herr!" Es klingt wirklich wie ein Klageschrei der durch Menschenschuld gequälten Schöpfung. Ein Abend mit Nachhall und Spätfolgen.


(Carl-Ernst Kattwinkel)